1930 - Die Lilienthals


1930

Mit der 1930 erschienenen Autobiographie "Die Lilienthals" von Anna Lilienthal und Gustav Lilienthal wird die Sichtweise von Gustav Lilienthal als betrogener Erfinder des Gesamtsystems (Anker-)Steinbaukasten festgelegt. In ihr wird Georgens Baukasten nicht erwähnt ebenso wie die genaueren Geschäftsbeziehungen zu Georgens und Richter. Jeder halt, wie er sich 50 Jahre nach den Ereignissen erinnern kann oder will.


Der Steinbaukasten

[Seite 29ff] Als die Großmutter gestorben war, ging die Schwester Marie als Lehrerin nach England und Otto bezog mit seiner jungen Frau die Wohnung. Zwei Jahre wohnte Gustav noch bei dem jungen Paar. Frau Agnes erzählt von ihrem Zusammenleben zu dreien, in welchem einer immer naiver und unerfahrener war als der andere, manches nette Geschichtchen. Im Grunde war es für die sehr junge, mit den Großstadtverhältnissen gänzlich unbekannte Frau keine leichte Aufgabe. Bei allem Glück war die kleine Werkstatt auf dem Dachboden das wichtigste für den jungen Ehemann geblieben, und dem Lockruf des Bruders: „Kumm na baben“ (sie sprachen unter sich gern ihr geliebtes Plattdeutsch), widerstand er nie; erst der Kummer der Vereinsamten unten am Familientisch belehrte ihn eines Besseren. In diesem Falle war aber das Bessere nicht der Feind des Guten. Das Gute, es entstand trotz dieser sprichwörtlichen Feindschaft, und es war der Steinbaukasten, der später als Ankersteinbaukasten in keiner Kinderstube fehlte.
Wie kamen der Architekt und der Maschinenbauer Lilienthal, wie kamen diese Flugtechniker dazu, ein Kinderspielzeug herauszubringen? Das ging so zu: Jan Dan. Georgens, ein wissenschaftlich gebildeter Pädagoge mit reformatorischem Sinn auf dem Gebiete der weiblichen Ausbildung und der Kindererziehung, hatte das Talent des jungen Gustav Lilienthal für seine Pläne gewonnen. Er und seine Frau J. Gayette-Georgens gaben unter produktiver Mitarbeit Lilienthals „Die Schulen der weiblichen Handarbeit“ (12 Hefte, 1877 bis 1886), „Jugendspiel und Arbeit“, das Sternbilderbuch und noch anderes Anregende auf diesem Gebiete heraus. Dazu gehört die Idee eines Baukastens aus echtem Material, das heißt aus wirklichen Steinen.
Auch in diesem Falle war der Weg von der Idee zur Ausführung kein leichter. Es kostete viel mühsame, vergebliche Versuche, bis die Steinchen endlich zu der netten Form, in der sie jetzt die Schaufenster zieren, gediehen waren. Nun sollte das „Geschäft“ beginnen. Zunächst war es ein Mißerfolg. Gustav zog damit hausierend von Laden zu Laden, niemand hatte „Meinung“ dafür. Aus Gefälligkeit nahm ein Spielwarengeschäft in der Leipziger Straße probeweise einen Kasten ins Schaufenster. – Da traten geschäftsgewandtere Leute, die rasch den Wert der Sache erkannten, mit dem enttäuschten Erfinder in Unterhandlung. Sie drängten zum Abschluß, einige 100 Mark noch unbezahlter Herstellungskosten ängstigten die Unerfahrenen, kurz, unter einem zeitweiligen Druck der Entmutigung gaben sie diese wertvolle Erfindung mitsamt den Maschinen für 1000 Mark her, und wieder war ein Fall, in dem der Erfinder von seiner Schöpfung nur Bitterkeit und Verluste zu spüren bekommt, während ein anderer deren Wert und Gewinn einheimst, im Buche des Schicksals zu verzeichnen!
Außer beim Steinbaukasten hatte Gustavs Trieb zu Reformen sich noch in einer anderen Richtung betätigt: die Frauenhandarbeit, die zu jener Zeit sich besonders in sinnlosen und geschmacklosen Verzierungen von Decken, Kissen, Teppichen und dergleichen auswirkte, wollte er in neue Bahnen leiten. Lange bevor die Kunstgewerbeschule sich mit staatlichen Mitteln dieser Sache annahm, leitete der unbekannte Architekt Lilienthal in der Krausenstraße in Berlin seine eigene Handarbeitsschule. Mit bestem Erfolge! Zum ersten Mal lernten die Damen dort den Begriff der Verzierung er fassen, den Sinn des Bötticherschen Wortes verstehen: „Des Körpers Form sei seines Wesens Spiegel, erkennst du dies, löst sich des Rätsels Siegel.“ Sie lernten in kurzer Zeit des Rätsels Siegel lösen, entwarfen selbständig ihre Muster, und zwar so gut, daß ein um sein gewichtiges Urteil gefragter Fachmann es wagen konnte, die Echtheit des selbständigen Entwurfes anzuzweifeln. Von der Hand des regsamen jungen Lehrers selbst stammt aus jener Zeit eine Fülle schöner Musterentwürfe, veröffentlicht zum großen Teil in der schon genannten „Schule der Handarbeiten“, in der „Modenwelt“, außerdem ein von ihm verfaßter Aufsatz „Kunstlose Mode und moderne Kunst“.

Durch die Erlebnisse der letzten Jahre enttäuscht und verärgert, schüttelte Gustav Lilienthal den Staub der Heimaterde von seinen Füßen und ging 1881 in Begleitung seiner Schwester nach Australien. Dort faßte er sehr bald festen Fuß und hatte in Melbourne als Baumeister im englischen Staatsdienst bis 1886 eine gut bezahlte, geachtete Stellung.

[Seite 42ff] Familie, Patente, Prozesse
Als fünf Jahre um waren, rief der Wunsch nach gemeinsamer Arbeit, nach gegenseitigem Austausch mancher neuen Ideen, die verwirklicht werden sollten, den Bruder zurück in die Heimat. Zunächst kam er auf einjährigen Urlaub. Zu dieser Zeit lernte ich die Lilienthals kennen.

[Seite 44ff]Die Brüder sangen, Frau Agnes begleitete auf dem Klavier. Gustav spielte die Harfe, sang zur Guitarre Tiroler- und Volkslieder. Dazwischen spielte man mit dem Steinbaukasten, harmlos, fröhlich, wie die Kinder, obgleich zur Zeit schon das Gespenst eines unseligen Prozesses, der um eben diesen Steinbaukasten gegen sie angestrengt wurde, über ihnen schwebte.

Die Forderung ist nicht an mich herangetreten, aber ich weiß es, und wußte es damals schon, daß mein Wille genügt hätte, Gustav zu lösen aus den unerquicklichen Verhältnissen, die schwer und schwerer lasteten und selbst den starken Mut eines Lilienthal zu brechen drohten. Den schon erwähnten Steinbaukastenprozeß, den der Gegner auf Grund eines übereilten Kaufkontraktes gegen sie anstrengte und der von diesem mit allen erdenklichen juristischen Machtmitteln durch drei Instanzen geführt wurde, verloren Lilienthals zum Schluß, und die Brüder wurden zur Zahlung einer hohen Konventionalstrafe verurteilt, die Ottos Verhältnisse stark schädigte und Gustav um seine sämtlichen Ersparnisse brachte.
Zum zweiten Male war es ein folgenschwerer Unbedacht, der den Brüdern durch Vernichtung von Briefen unersetzliche Verluste zufügte. Das eine Mal waren es die Reiseberichte aus Australien, vor allem die Vögelbeobachtungen. Im zweiten Falle war der Schaden noch größer, denn ein Einblick in den Briefwechsel, der dem unglückseligen Kontrakte vorhergegangen war, hätte die Gerichte in diesem verwickelten Prozeß wohl klarer sehen lassen.
An dieser Stelle sei der vielverbreitete Irrtum, daß die Erfindung des Steinbaukastens nur einem der Brüder Lilienthal zuzuschreiben wäre, richtiggestellt. Er ist durch die Tatsache, daß zwei Baukastenpatente, für Stein- sowohl wie Modellbaukasten, auf Otto Lilienthal lauten, entstanden. Ein Patent Lilienthal auf den Steinbaukasten, der später unter dem Namen „Ankersteinbaukasten“ in die Öffentlichkeit kam, hat es niemals gegeben. Adolf Richter in Rudolstadt nahm erst nach dem Ankauf dieser Erfindung ein Patent darauf. (Das Patent wurde im Verlaufe des erwähnten Prozesses gestürzt.) Entstanden ist dieser Baukasten in gemeinsamer Beratung der Brüder Lilienthal über die Herstellung der Masse und der Steine. Was Formulierung, Zeichnung, Entwerfen der Bauvorlagen betrifft, so ist das alles von der Hand Gustavs, des Architekten, geschaffen.
Nach der Rückkehr Gustav Lilienthals von Australien wagten die Brüder, im Gefühl ihrer moralischen Berechtigung, zum zweiten Male eine Steinbaukasten-Fabrikation, – auf ganz anderer technischer Grundlage, mit ganz anderem Material zur Herstellung der Steinchen. Da verklagte Richter sie auf Grund seines Kaufvertrages und gewann am Ende den jahrelang dauernden Prozeß.
Otto hatte viel, Gustav alles verloren. So kam es, daß letzterer auch keine Patente mehr besitzen konnte.
Die Steinchen des neuen, zweiten Steinbaukastens waren schöner von Ansehen, genialer in ihrer Herstellungsweise als die des ersten. Die Möglichkeit ihrer Fabrikation ging unwiederbringlich verloren. Möge ihnen in folgender Schilderung eine kurze Auferstehung zuteil werden.
In Otto Lilienthals Maschinenfabrik, Köpenicker Straße, steht im großen Werkraum ein langer Tisch mit laufendem Band, am oberen Ende des Tisches eine hochragende Maschine, die die Vorrichtungen zur Herstellung der Steine in ihren verschiedenen Stadien der Entstehung oberhalb und unterhalb des Tisches in Bewegung setzt, und die am unteren Tischende die fertigen, blitzsauberen Steinchen wie durch Zauberhand von unten herauf durch eine Öffnung in der Platte des Tisches auf das laufende Band setzt – zum Abnehmen fix und fertig!
Die Maschine gefiel Richter & Co., und die Firma erklärte sich bereit, einige ihrer fast unerfüllbaren Forderungen zu streichen, wenn sie dafür diese Maschine erhielte.
Die komplizierte Maschine wurde von einem Monteur Otto Lilienthals in Rudolstadt zum Betriebe fertig aufgestellt. Aber schon bei der ersten Probe brach sie mit lautem Krach auseinander. Damit endete für uns die Geschichte der Steinbaukästen.



Quelle: Die Lilienthals, Anna und Gustav Lilienthal, Stuttgart, Cotta, 1930


Auf diese Autobiographie greifen seitdem alle Lilienthal-Forscher zurück, wenn es um die Episode "Steinbaukasten" geht, und verwenden sie in ihren eigenen Büchern.

Das angeblich unter produktiver Mitarbeit Lilienthals entstandene Sternbilder-Buch von Johann Daniel Georgens und Jeanne Marie von Gayette erschien bei L. C. Zamarski übrigens 1858, eine Neuauflage konnte bislang nicht nachgewiesen werden.
  Quelle: Lilienthal, Anna; Lilienthal, Gustav: Die Lilienthals, 1930, Stuttgart, Cotta